Die menschliche Gestalt steht im Mittelpunkt meiner bildhauerischen Tätigkeit. Bestehende Werte und Normen mit meinen Plastiken zu hinterfragen, und mit ihnen (neue) Denkanstöße geben ist Motivation und Ziel meines Arbeitens. Kommunikation ist mir wichtig: nicht über, sondern mit meinen Arbeiten. Auch Ignoranz, Miß- und Unverständnis sind Bestandteile dieser Kommunikation. Leugnen von Ablehnung und Nichtverstehen wäre vermessen und meiner Motivation widersprechend. Diese Aspekte erfordern eine Offenheit des Betrachters meinen Arbeiten gegenüber. Offenheit, vor allem in unserer heutigen Zeit, scheint mir von zentraler Bedeutung.Die vorurteilslose Auseinandersetzung mit meinen Arbeiten ist mein Wunsch. Nur auf diesem Wege ist es möglich, meine Plastiken zu begreifen, sie als schlecht oder gut bzw. als richtig oder falsch zu beurteilen. Ich setze weder Urteile noch beanspruche ich eine Allgemeingültigkeit. Meine Arbeiten sind Ausdruck offener Anzweiflung an manifestierten allgemeinen (Vor)Urteilen. Konkret bedeutet dies die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Widersprüchen, d.h. Konflikt-bzw. Tabuthemen (z.B. Idealismus-Materialismus, Tradition-Fortschritt, Sexualität-Moral) und der diesbezüglich geltenden moralischen und ethischen Bewertungen.

Stein wird seit Jahrtausenden in der Kunst verwendet und hat bis heute seine Wertigkeit in diesem Bereich behalten. Das Archaische im Menschen ist so tief verwurzelt wie im Stein und schafft in diesem Medium immer wieder eine Ebene von faszinierender Erotik. Die Spannung in der Arbeitsphase baut sich, im Gegensatz zu Ton oder Metall, langsam und gleichmäßig auf bis zu einem Punkt an dem der Stein vom Betrachter zu Ende modelliert und formuliert werden will. In diesem Stadium gibt der Stein die meiste Energie ab. Er gibt mir die Kraft Neues zu schaffen und bietet dem Betrachter ein Gespäch an.

Inspiriert von mir nahegehenden Themen aus den täglichen Nachrichten und meinem persönlichem Umfeld schaffe ich äußerst subjektiv Skulpturen in Stein, Holz und Metall.
Die Werke in der chronologischen Anordnung gesehen, könnte man im Ganzen als ein dreidimensionales, skulpturales Tagebuch betrachten.
Viele Berichte in den Nachrichten schüren nur die Sensationslust, machen uns zu Schaulustigen und lassen uns im sicheren Abstand den Katastrophen zusehen, ohne uns jemals glauben zu lassen, selbst in so eine Situation zu geraten. Mit meinen Arbeiten fange ich Momentaufnahmen ein und konserviere sie in bleibende Materialien. Persönliche Gefühle, wie Wut, Trauer, Betroffenheit, Lust, Sicher- und Unsicherheit, Stärke und Schwäche beeinflussen die Form dabei in einem erheblichen Maße. Gegebene Ereignisse möchte ich aus ungewöhnlichen Blickwinkeln beleuchten und den Betrachter zum Nachdenken anregen.
Meines Erachtens ist der Stein das geeignetste Material, um in der heutigen schnellen und medial-oberflächlichen Gesellschaft, vergänglichen Zeitpunkte und Ereignisse dauerhaft in Erinnerung zu rufen.
Meine Skulpturen können keine Antworten auf das tägliche Geschehen und die Katastrophen geben, aber sie geben mir die Möglichkeit die verschiedenen auf mich einwirkenden Einflüsse auszudrücken:
Gegeneinander und doch miteinander vernetzt wirken aus meiner Sicht dabei einerseits das ungebrochene Vertrauen in die High-Technology und andererseits der archaische Wunsch sich sicher zu fühlen, wie in den Armen seiner Mutter. Ich versuche zu visualisieren, wie sensibel und zerbrechlich die Architektur dieses Konstrukts zwischen Leben und Tod sein kann.
Die Titel der Arbeiten (Dream Of Flying I + II ; Il Cestino Di Capucetto Rosso ; Ice ) stimmen bewusst nicht mit den Schlagzeilen der Medien überein, da sie keine beschreibende oder erklärende Funktion übernehmen sollen.

Die Umsetzung persönlicher und privater Ereignisse kommen z.B. in den Skulpturen „Geigenraum I + II“ zum Ausdruck. Diese Assamblagen aus einer Geige, dem Vulkangestein Diabas und Eisenteilen, sind das Ergebnis einer Geigenperformance. Der Klang, der als Teil der Performance durch das Spielen des Instruments und gleichzeitiger Bearbeitung durch diverse Werkzeuge erzeugt wurde, ging im Entstehungsprozess der Form des Objektes voraus. Nach Fertigstellung der Skulpturen kann dieser Klang keinem Betrachter mehr zugänglich gemacht werden. Bezogen auf den Klang der Werkzeuge, gilt das für jede fertige Skulptur. Die unmittelbare Bearbeitung der Geigen während des Geigenspiels im Rahmen der Performance ermöglichte mir unter Einbindung der werkzeugspezifischen Klänge die Metamorphose der musikalischen Komposition in die plastische. Aus einem Vorgang in der Zeit wurde eine Gestalt im Raum. Aus Klang wurde Form, sinnbildlich gesprochen: Er bekam eine sichtbare Hülle. So auch die Geige, die als Symbol für den Klang in Stein und Metall eine neue Hülle bekam.

Karin Odendahl-Tobias über die Arbeiten von Marc Bertram:

Als Künstlerkollegin möchte ich meine Sicht seiner Arbeit, meine persönliche Rezeption seiner Stücke hier für Sie wiederzugeben.
Dies ist für mich – wie Sie sicher heraushören werden – nicht nur eine Ehrensache, sondern auch ein wirkliches Vergnügen!

Wir kennen uns bereits seit langer Zeit, haben während des Studiums aber stets parallel gearbeitet – eher im Sinne von geistig verwandtem Schaffen in unterschiedlichen Medien.
So habe ich ihn eher „intuitiv“ oder „zufällig“ verfolgt, bis hin zu dem Tag in diesem Frühjahr, an dem sich unserer Wege tatsächlich kreuzten: In der Liebe zur menschlichen Figur in unser beider Arbeit.

Frage ich ihn selbst nach seinen Ideenquellen, dann spricht er immer schnörkellos und diesseits von ausschließlich momentbezogen Berührungen durch Ereignisse aus seinem persönlichen Umfeld oder dem aktuellen Zeitgeschehen.
Alfred Reuters titulierte seine Steine in diesem Sinne auch als „Skulpturale Polaroids“. Beispielsweise, als am 9.9.99 im Radio ausschließlich von diesem außergewöhnlichen Datum die Rede war, beendete Marc als Reaktion darauf seine Menschen-Brücke II . In China sagte man von übrigens diesem Datum, daß er der intensivste Tag im Jahr sei, an dem man auf geistiger Ebene dem Himmel am nächsten sei…

Ein wichtiger Aspekt in seinen Stücken ist der Gegensatz – sowohl technisch, als auch interpretativ gesehen. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist für ihn seine Geigenskulptur und die einmal dazu stattgefundene Performance mit der Geigenspielerin Doro Mühleisen. Er hat hier die contradictio in reo des flüchtigen Momentes der Musik in Verbindung und Zusammenhang gebracht mit dem statischen und bleibenden Urgestein.

Wenn man Marc Bertrams Bearbeitungstechnik und Auffassung des Steins beobachtet, ist auch die Embryo – ähnliche Skulptur mit dem Titel Geburt Des Steins ein wesentlicher Beitrag:
Oft ist kaum ein Hammerschlag nötig, um die Skulptur aus dem Stein zu holen. So wie er sie sieht, findet er einen möglichst sparsamen Weg hin zu ihr. So erhält er den Charakter und die Struktur des Steins – egal, ob er nun ein organisches Fundstück oder einen bereits behauenen Grabstein (mit teilweise noch vorhandener Inschrift) verwendet.

Wenn ich selbst über ihn nachdenke und seine Stücke betrachte, erkenne ich einen weiteren ihnen innewohnenden Grundton, eine sie alle verbindende Stimmung, Spannung, Tendenz, Ausstrahlung – wie auch immer der Einzelne es nennen möchte: Diese geistige Struktur hat sich peu a peu über die Jahre verfeinert, ist stärker und kraftvoller geworden – bis hin zur Arbeit eines jung-gestandenen, selbständigen Bildhauers.

Für mein persönliches Auge und Empfinden sind seine Skulpturen auf einen scharfen, genauen, dabei aber feinsinnigen Punkt gebrachte Gedanken, streng visualisierte Ideen, die oft eine bestimmte „Grenze“ markieren:

Die dessen, was das zu bearbeitende Material für seine teils filigranen Körper zuläßt, jene Grenze, die den spannendsten Punkt für einen Wechsel des Werkstoffs beinhaltet, oder denjenigen Aspekt, der die Grenze der Interpretation und des Dargestellten angeht: Der wesentlichste Punkt ist der grenzüberschreitende Moment, mit dem Marc Bertram mit verwirrender Direktheit den Augenblick trifft, der das Sichtbare vom Unsichtbaren trennt.

Denn dies ist das Wesentliche, das den Kreis schließt, und als „inneres Bild“ im aufmerksamen Betrachter zurückbleibt: Die Grundstimmung des Künstlers, die zur Idee wurde, aus der die Plastik resultierte, und die wieder gespiegelt zurückkehrt in dem bleibenden Eindruck, den die Aura der Plastik hinterläßt.

Quasi wird so die erste Idee durch jeden interessierten Betrachter unendlich fortgesetzt und variiert… Ein wirklich faszinierender Gedanke, den nur wenige – wie er – auszulösen verstehen.

Ich kann Sie schlecht bitten, während Ihres Rundganges immer wieder im Genuß Ihre Augen zu schließen, aber sicher werden Sie etwas später und in nächster Zeit diese Skulpturen von Marc Bertram mit den offenen Augen der Erinnerung sehen und den Widerhall spüren, den ich Ihnen eben ausmalte…

Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit in anregender Betrachtung seiner Arbeiten.